Dürfen die in der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI) festgesetzten Mindessätze für Planungs- und Überwachungsleistungen der Architekten und Ingenieure – von Ausnahmefällen abgesehen – weiterhin nicht unterschritten werden (§ 7 Abs. 3 HOAI)? – Beschluss des Bundesgerichtshofes vom 14.05.2020 zum Aktenzeichen VII ZR 174/19
Der Fall:
Der Kläger, der ein Ingenieurbüro betreibt, verlangt von der Beklagten, deren Unternehmensgegenstand die wirtschaftliche Entwicklung von Immobilien ist, die Zahlung restlicher Vergütung.
Die Parteien schlossen am 2. Juni 2016 einen Ingenieurvertrag, in dem sich der Kläger gegen Zahlung eines Pauschalhonorars von 55.025 € zur Erbringen von im Einzelnen aufgeführten Leistungen gemäß § 55 der Verordnung über die Honorare für Architekten- und Ingenieurleistungen in der Fassung vom 10. Juli 2013 (im Folgenden: HOAI) für ein Bauvorhaben in B. verpflichtete. Auf die Abschlagsrechnungen des Klägers vom 15. Juni 2016 und 16. September 2016, die jeweils auf Grundlage des vereinbarten Pauschalhonorars erstellt waren, leistete die Beklagte Zahlungen in Höhe von insgesamt 55.395,92 € brutto.
Nachdem der Kläger den Ingenieurvertrag mit Schreiben vom 2. Juni 2017 gekündigt hatte, rechnete er im Juli 2017 seine erbrachten Leistungen in einer Honorarschlussrechnung auf Grundlage der Mindestsätze gemäß §§ 55, 56 HOAI ab. Mit der Klage hat er die nach Abzug der geleisteten Zahlungen und eines Sicherheitseinbehalts aus der Schlussrechnung noch offene Restforderung in Höhe von 102.934,59 € brutto nebst Zinsen und vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten geltend gemacht.
Das Landgericht hat die Beklagte zur Zahlung von 100.108,34 € nebst Zinsen verurteilt und die Klage im Übrigen abgewiesen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht (OLG Hamm, BauR 2019, 1810) unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels das erstinstanzliche Urteil teilweise abgeändert und die Beklagte mit Teilverzichts- und Schlussurteil zur Zahlung von 96.768,03 € nebst Zinsen verurteilt sowie die weitergehende Klage abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf vollständige Klageabweisung weiter.
Der dem Beschluss des BGH zugrundeliegende Sachverhalt ist geradezu klassisch: Meist vor dem Hintergrund eines Streites zwischen einem Architekten oder einem Ingenieur und dem Auftraggeber verlangt der Architekt oder Ingenieur ein Honorar nach den Mindestsätzen der HOAI, das dann höher ist als ein zuvor vereinbartes Honorar. Oft haben Architekten oder Ingenieure mit dieser Vorgehensweise Erfolg, da (zwingend) nach den Bestimmungen der HOAI, von Ausnahmefällen abgesehen, die Mindestsätze der HOAI beim Honorar nicht unterschritten werden dürfen.
Die Entscheidung:
Der BGH hat das bei ihm anhängige Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Auslegung des Unionsrechtes bestimmte Fragen vorgelegt. Diese Vorgehensweise des BGH hat folgenden Hintergrund:
Der Gerichtshof der Europäischen Union hat mit Urteil vom 4. Juli 2019 festgestellt, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchstabe g) und Abs. 3 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (im Folgenden: Dienstleistungsrichtlinie) verstoßen hat, dass sie verbindliche Honorare für die Planungsleistungen von Architekten und Ingenieuren beibehalten hat (EuGH, Urteil vom 4. Juli 2019 – C-377/17, BauR 2019, 1624 = NZBau 2019, 511 – Kommission/Deutschland).
Ohne an dieser Stelle auf in rechtlicher Hinsicht komplizierte Überlegungen einzugehen, zielen die Fragen des BGH an den Gerichtshof der Europäischen Union im Ergebnis darauf ab, ob sich das vorangegangene Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union vom 4. Juli 2019 direkt auf laufende Prozesse unter Privaten auswirkt, d.h. ob in laufenden gerichtlichen Verfahren weiterhin von der Verbindlichkeit der Regelungen der HOAI zum „nicht unterschreiten dürfen“ der Mindestsätze auszugehen ist oder nicht. Die sich hierbei stellenden rechtlichen Fragen werden in Rechtsprechung und Literatur sehr kontrovers diskutiert.
Ergänzende Hinweise zu dieser Entscheidung:
Wer mit einem laufenden Verfahren konfrontiert ist, bei dem geltend gemachtes Honorar von Architekten oder Ingenieuren unter den oben erörterten Gesichtspunkten in Frage steht, sollte überlegen, ob nicht die Aussetzung eines solchen Verfahrens geboten ist, bis zur Beantwortung der Fragen des BGH durch den Gerichtshof der Europäischen Union.
Hamburg, den 01. Juli 2020
RA Junker
Fachanwalt für Miet- und Wohnungseigentumsrecht
Fachanwalt für Verwaltungsrecht
Hamburg